von Lilian Ried Miller Barros¹
Zentrum für Erforschung und Studium der Farbe – Universum der Farbe,
São Paulo -‐ SP, 27. März 2013
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L’ASPIRATION | A | L’ABSOLUT | II | – | Taisa | Nasser |
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PHARMAKON | ATHANASIAS | – | Taisa | Nasser |
erschuf.
Unser visuelles System ermöglicht aufgrund komplexer neurobiologischer Prozesse die Sinnes-‐ wahrnehmung der Farben. Die Farbe ist ein dem menschlichen Auge inhärentes Phänomen – eine wesentliche Informationen für unsere Vorstellung von der sichtbaren Welt – und das Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses. Die meisten Säugetiere sehen dagegen keine Farben oder vielmehr können sie sie
nicht unterscheiden. Ihnen ist das, von der Neurobiologie „where-‐System" (wo-‐System) genannte visuelle System eigen, welches auf die Wahrnehmung von Licht und Schatten sowie auf die Konstruktion von Bewegungen, des Raum, der Position, von Tiefe, der Unterscheidung zwischen Gestalt und Hintergrund als auch auf das allgemeine Erfassen des visuellen Schauplatzes spezialisiert ist.
Dagegen basiert das „what system” (was-‐System) – ein System, bei dem die visuelle Information mit der Farbunterscheidung einhergeht und das bei Primaten und unserer Spezies gut entwickelt ist – auf einem neueren evolutionären Prozess, der den ersten(das wo-‐System) überlagerte und uns zudem die Möglichkeit gibt, zwischen Wellenlängen zu unterscheiden sowie Farben und Objekte (einschließlich Gesichter) zu erkennen.
¹LILIAN RIED MILLER BARROS, Architektin und Abschluss in Design von der Universität von
São Paulo (FAU USP), mit Fokus auf die kreative Verwendung von Farbe; Autorin des Buches "Die Farbe im kreativen Prozess" (Hrsg. Senac, São Paulo: 2006), welches heute in vierter Auflage von verschiedenen Bildungseinrichtungen in Brasilien als grundlegende Bibliographie für Kurse über die Wahrnehmung und das Arrangement von Farben herangezogen wird. Sie leitet das Zentrum für Erforschung und Studium der Farbe – Universum der Farbe (www.universodacor.com.br) in São Paulo und arbeitete mit Spezialisten aus den Bereichen Design, Architektur und Mode. Sie ist Professorin und hält Vorträge zum Thema „Wahrnehmung "und Arrangement von Farben“ in Institutionen und Unternehmen. Darüber hinaus nahm sie am Aufbaukurs International Colour Design Workshop, der NCS Colour Academy / FÄRGSKOLAN, Schweden, 2011. (Curriculum Lattes) teil.
²David HUBEL, Margaret LIVINGSTONE, V. S. RAMACHANDRAN. Diese beiden parallelen visuellen Systeme extrahieren unterschiedliche Informationen aus der Umwelt und lassen, in verschiedenen spezialisierten Bereichen unseres Gehirns, alle möglichen Ausmaße des Sichtbaren entstehen. Effekte von Farbvibrationen und die Empfindung einer optischer Täuschung wurden bereits in verschiedenen künstlerischen Strömungen ausgenutzt, erinnert man sich zum Beispiel an die Fauves (Matisse, Derain), die Op Art (Vasarely, Albers) oder einfach an Mark Rothko. Diese Sinneswahrnehmungen der Farben, die sich von der Leinwand lösen, die vibrieren und, der räumlichen Lokalisierung widerstehend, die Sinne täuschen entstehen, wenn das wo-‐System nicht funktioniert, oder anders ausgedrückt, wenn die Differenz zwischen hellen und dunklen Farbflächen nicht ausreicht, um unsere Wahrnehmung von Raum und Tiefe zu aktivieren. „Die satten Farbdrucke der psychedelischen Ästhetik der 70er Jahre, die Bewegung und visuelle Effekte
suggerieren, welche wiederum auf einen halluzinogenen Einfluss verweisen, sowie die ungewöhnliche Helligkeit der Malerei des Impressionismus und Pointillismus sind Beispiele des Zusammentreffens von Farbe, die, bar jeden Helligkeitskontrastes, eine gewisse Vibration provozieren“.³
Die Rezeption der Farbe ist in den Werken von Taisa Nasser nicht von der Wahrnehmung des Raumes trennbar. Ihre Pinselstriche sind stoffliche Partikel, sie werfen Schatten und enthüllen Texturen; erlauben damit die Wahrnehmung von Rauminhalten und aktivieren sowohl das wo-‐System als auch das was- System. Das heißt, durch das gleichzeitige Vorhandensein von Farbunterschieden und Farbtiefe bedienen wir uns der räumlichen Wahrnehmung und der Erkenntnis der Farben, ähnlich wie bei der Betrachtung einer Landschaft. Im visuellen Kontext ihrer Gemälde werden nicht die illusorischen Effekte der Farbe erforscht, wie es die Kunstbewegungen taten, die wir bereits erwähnten. Im Gegenteil, in den Werken von Taisa wird die Farbe als Substanz behandelt – als Essenz – sie wird als integraler und untrennbarer Teil der Materie wahrgenommen, empfindsam und greifbar zugleich. In diesem Sinne können wir von einer Stofflichkeit der Farbe in ihren Arbeiten sprechen. Das spiegelt sich auch im Konzept der Ausstellung "Klarheit" der Künstlerin wieder, demzufolge das visuelle System umfassend aufgefordert wird, Farbe und Räumlichkeit auf einer Leinwand zu erfassen, damit ein visuelles, "fühlbares" Verständnis zu bewirken und die Klarheit der Sinne zu wecken. Diese Effekte lassen sich am besten in den Werken „L’ASPIRATION A L’ABSOLUT II“ und „PHARMAKON ATHANASIAS” ersehen.
³BARROS, Lilian Ried Miller. "Die unerwartete Farbe: Reflexion über die kreative Verwendung von Farbe." Dissertation in Design und Architektur -‐ FAU USP (Fakultät für
Architektur und Stadtplanung der Universität von São Paulo, Supervisor: Silvio Melcer Dworecki. São Paulo, 2012.
David Batchelor macht uns auf die, wenn auch noch nicht zugegebene, Existenz einer beständigen Missachtung oder Angst vor der Farbe (Chromophobie) in der westlichen Kultur aufmerksam.¹° Wir werden dazu angehalten, Farbe als eine minderwertigere Stimulanz als die, welche die Wahrnehmung der Form auslöst, aufzufassen.
Die Entwicklung der chemischen Technologie bei der Herstellung von Lacken, Farben und Pigmenten ermöglichte das Aufbringen von intensiven, gesättigten Farben auf jedweder Oberfläche und ihr natürliches Aussehen damit zu maskieren. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, dass Farbe etwas Abstraktes sei, losgelöst vom Wesen der Dinge. Wittgenstein hat bereits auf die Existenz verschiedener "Arten von Farben" hingewiesen: „Es gibt scheinbar, was man „Stofffarben“ und was man „Oberflächenfarben“ nennen kann.“… „Unsre Farbbegriffe beziehen sich manchmal auf Substanzen (Schnee ist weiß), manchmal auf Oberflächen (dieser Tisch ist braun), manchmal auf die Beleuchtung (im rötlichen Abendschein), manchmal auf durchsichtige Körper.“¹¹
Taisa sucht diese Verknüpfung zwischen Farbe und Essenz, welche in der westlichen Kultur vergessen scheint. Im Gegensatz zu unserer Konditionierung, die virtuelle Realität auf den Flachbildschirmen elektronischer Geräte zu betrachten, zieht die Stofflichkeit der Farbe den Blick auf ihre Zusammensetzung und hält ihn dort fest. Einerseits bewerten und unterscheiden die Farben durch ihre subtilen Schattierungen die Materie, andererseits verleiht die Materie, weil sie aus Pigmenten besteht, der Farbe ihre substantielle Gestalt.
¹°BATCHELOR, David. 2000. “Chromophobia”, Reaktion Books Ltd, London.
¹¹WITTGENSTEIN, Ludwig. 1977. Bemerkungen über die Farben. § 254-‐255 (1994d) Werkausgabe Bd.8, Frankfurt a.M.; Suhrkamp