Die Überraschung, die der Leiter der
Kunstbiennale Venedig, Massimiliano Gioni, vor wenigen Tagen zur Eröffnung im
Zentralpavillon seinen Besuchern präsentierte, besteht in einem großen roten
Buch mit dem Titel „Der enzyklopädische Palast“, dem wichtigsten Objekt der
Ausstellung. Es steht für die Bildervorräte und Bilderkosmen, die unsere
Visionen speisen: mentale Bilder und aufgezeichnete Träume des Psychiaters Carl
Gustav Jung (1875 – 1961).
Diese Erklärung Taisa Nassers – für sie das grundlegende Manifest ihres
künstlerischen Schaffens – wurde in dem Pariser Gespräch der Künstlerin mit den
Kuratoren Jochen Boberg, Alexandra Grimmer, Ulrike Damm und Elmar Zorn so
bestimmend, dass ihr in aller Ausführlichkeit in diesem Künstlerbuch Raum
gegeben ist. Das Gespräch war die Fortsetzung eines früheren Treffens in Paris,
an dem außer den oben Genannten der Museumsmann Dieter Ronte, der Kunstkritiker
Heinz Peter Schwerfel und der Ausstellungsleiter des Städtischen Kulturzentrums
Pasinger Fabrik Thomas Linsmayer teilnahmen. Ähnlich überraschend zog Taisa
Nasser bei einem Treffen im März 2013 mit Kuratoren der „Curatorial Partners“ –
Kunstkritiker, Museumsdirektoren und Ausstellungsmacher aus verschiedenen
Ländern – das großformatige rote Buch von Jung in italienischer Ausgabe hervor,
um ihre fundamentale Auseinandersetzung mit der Geschichte der Malerei und dem
Wesen der Farbe im Spannungsfeld zwischen dem Ich und dessen
Persönlichkeitskern, dem Selbst, zu stützen. Sie erläuterte uns die Faszination
von Jung für die Alchemisten des Mittelalters – wie im Roten Buch beschrieben –
und wie sehr sie diese mit ihm teilte.
In der Dokumentation der Gespräche mit der Künstlerin,
die um die Themen Farbe, Materie bzw. Material, Bewegung, Film, Musik und Tanz
kreisten, wurde die doppelte künstlerische Ausrichtung von Taisa Nasser
deutlich: als Architektin und als Malerin. 1976 an der Universität von São
Paulo in Architektur und Urbanistik diplomiert, sieht sie ihren raumgreifenden
Einsatz pastosen Farbauftrags auch als Fortsetzung ihrer architektonischen
Berufung mit den Mitteln der Malerei.
Zu den beiden Lebenszentren São Paulo und Paris, die sich auch in ihrer
Ausstellungstätigkeit in diesen Städten sowie in den prominenten Auszeichnungen
ausdrücken, die die brasilianische Künstlerin mehrfach in Paris erhielt, tritt
nunmehr der deutschsprachige Raum hinzu, beginnend mit einer furiosen
Präsentation von zehn großformatigen Arbeiten in der zentralen Halle der
brasilianischen Botschaft in Berlin. Es folgen der Auftritt ihrer Werke im
Rahmenprogramm der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Land Brasilien
als Ehrengast sowie weitere Stationen. Dass sie eine Einladung der Stadt
München für einen Gastaufenthalt von drei Monaten in der Künstlervilla Ebenböck
akzeptiert hat und eine Ausstellung mit dem Jüdischen Zentrum in Krakau geplant
ist, macht deutlich, dass diese Künstlerin dabei ist, das zu verwirklichen, was
sie im Gespräch mit den Kuratorenfreunden so berührend beschreibt: „Ich möchte
mein Publikum mit meinen Werken umarmen“.
Prof. Dr. Dieter Ronte
Dieter Ronte |